Die Idee von einem Gebäude, das gleichzeitig als Eisdiele, als Postamt, als Hotel, als Turbinenhaus, Pumpstation, Lichtspielhaus, Dorfbad oder gar als Kirche genutzt werden kann, klingt utopisch. Aber sie war und ist stellenweise Realität.
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Sogar die Nationale Volksarmee nutze sie mehrfach für den Personenaufenthalt und als Werkstatt auf dem Flugplatz BRANDENBURG-BRIEST von 1971 bis in die 80iger Jahre, ehe sie durch Festbauten abgelöst wurden.
1959 stellte der Schweriner Maschinenbauingenieur Helmut Both die ersten Entwürfe für die "Transportable Raumerweiterungshalle" vor, die 1966 - nach einer Weiterentwicklung durch seinen Sohn Klaus im VEB Metallbau Boizenburg/Elbe in Serienproduktion ging. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass man am 12.04.1972 aus dem Unternehmen Haberroth Both & Co. Boizenburg einen volkseigenen Betrieb gemacht hatte.
Vom Prinzip her einfach, dabei aber äußerst praktisch in ihrer Flexibilität, wurde die Ziehharmonikahalle schnell bekannt. Die "Variant", wie man sie auch nannte, wurde bis ca. 1989 fast bis zu 3.500-mal gebaut. Der Verkaufspreis war ca. 20.000 Mark. Die hohe Verkaufsanzahl hatte man der Leipziger Messe 1970 zu verdanken. Sie bescherte der Firma einen bis dahin nicht gekannten Auftragseingang, wie sich der Firmenchef Helmut Both erinnerte: "Der hat dann auch bedingt, dass wir von der Handarbeit unter freiem Himmel dann auf Taktstraßenfertigung auf einem neuartigen Betriebsgelände umgestellt haben."
Wegen des Verbots, Aluminium in großem Maßstab zu verwenden, wurde die Produktion der Halle eingestellt und zunehmend durch einen containerähnlichen Typ ersetzt. Diese aber aus Wellblech. In der ganzen DDR gehörte die eigenwillige Frontsilhouette mit ihrem abgerundeten Dachfuß und den nach innen geneigten Außenwänden zum alltäglichen Leben. Bei den Leipziger Frühjahrsmessen wurde sie regelmäßig als "HO-Kaufhalle" präsentiert. Oft waren in ihr auch Intershop-Läden und Autobahnraststätten untergebracht. 1975 erfolgte der erste Export nach den Niederlanden. Zum Einsatz kam sie auch in der damaligen Sowjetunion, im Irak, Syrien, Jemen, Algerien und Berlin/West. Übrigens, am 7.7.1977 wurde zielbewusst die 777. Raumerweiterungshalle (REH) produziert. Ein Patent auf die Hallen gab es aber nie.
Die meisten REH wurden nach der Wende verschrottet oder nach Russland, Litauen und in die Ukraine verkauft. Eine hat es sogar über den Atlantik geschafft. Im US-Bundesstaat Kalifornien ist sie im Wendemuseum bei Los Angeles zu sehen. Da in dieser Gegend hin und wieder die Erde bebt, kam es zu einer – für den DDR-Ingenieur Klaus Both – ungewöhnlichen Nachfrage. "Da wollten die von uns, in Los Angeles, Berechnungen über die Erdbebensicherheit haben. Da ging’s nicht mehr weiter, das konnten wir nicht", berichtete er schmunzelnd.
Das Prinzip der REH ist das eines Teleskops: Mehrere Module, Tunnel genannt, werden je nach Bedarf aneinandergesetzt. Maximal acht Tunnel bilden die Höchstlänge von 16 Metern und etwa 128 Quadratmeter Grundfläche. Ohne größeren Aufwand können zwei Hallen zusammengestellt werden, was einen Wurm von etwa 32 Metern Gesamtlänge ergibt.
Das menschliche Körpermaß bestimmte die Höhe des kleinsten Elements, die Transportfähigkeit die des größten. Zusammengeschoben ist ein Transport der Halle kein Problem, denn der Grundrahmen des ersten Tunnels, eine Stahlkonstruktion, die im aufgebauten Zustand als Fundament dient, verwandelt sich zum Fahrgestell. Zum Aufstellen einer 16 Meter langen Halle benötigten sechs Personen unter normalen Bedingungen, ohne weitere Hilfsgeräte, rund sechs Stunden, so sagt es zumindest der Prospekt.
In der Realität konnte der 7,5 Tonnen schwere Container innerhalb eines Tages aufgebaut werden. Der Grundrahmen, der zugleich als „Fundament“ und Stützkonstruktion dient, ließ den Einsatz von schweren Baugeräten wie Kränen entbehrlich werden. „Wir haben ihn so konstruiert, dass man ihn ohne Kran errichten konnte,“ sagt Klaus Both. „Schließlich war in der DDR nicht immer einer zur Verfügung.“ Also karrte man die zusammengeschobene REH auf einem Transportgestell an Ort und Stelle, wie einen Campingwagenanhänger. Mittels eines Tiefladers konnte sie in einem Stück auch transportiert werden.
Der Wand- und Dachaufbau der Raumzellen der REH bestand aus einer Wetterschale aus eloxiertem Aluminiumblech von 1,5 mm Stärke, filigranen Stahlleichtbauprofilen und einer Innenverkleidung aus beschichteten Hartfaserplatten. Wahlweise konnte der Hohlraum mit einer Dämmung aus Glaswolle wärmeisoliert ausgeführt sein, sowie als Installationsbereich für Kabelführungen der Beleuchtungsanlage und Steckdosenanschlüsse genutzt werden. Im Regelfall war die REH mit Beleuchtungskörpern mit Leuchtstoffröhren ausgestattet. Die charakteristischen abgerundeten Ecken, die auch konstruktiv die neuralgischen Punkte darstellten, übernahm Both dabei nach eigenen Aussagen aus dem Brückenbau.
Warum die REH nie in Westdeutschland ein Erfolg wurde, beantworte Both wie folgt: „Für den Aufbau brauchen Sie sechs bis sieben Leute. Schon damals sei Arbeitszeit im Westen zu teuer gewesen, als dass sich die Erfindung gelohnt hätte.“
Aber zurück in unsere Stadt Brandenburg an der Havel.
Auch in Wilhelmsdorf stand diese REH seit 1971 als Verkaufspunkt der HO. Am Ende der Halle entstand ein kleiner Massivbau, der den Lagerraum inklusive der Kühlzellen beherbergte. Die Halle stand zwischen den Grundstücken Wilhelmsdorf 7a und 7b. Vorher war es eine landwirtschaftliche Fläche, wo Möhren und Kartoffeln unter einer Strohmiete überwinterten. Für 0,37 Pfenning pro Quadratmeter erhielt die Stadt das Grundstück, ehe die REH aufgestellt wurde.
Nach dem Rückzug der Handelsorganisation (HO) (sie war 20 Jahre vor Ort) eröffnete Christa Heibl 1991 ihr Einkaufscenter in der REH. Die Entwicklung des großflächigen Einzelhandels in der Stadt Brandenburg setzt dem kleinen Center dann im Januar 1996 ein Ende. Dann stand die REH leer. Die Treuhand versuchte die Immobilie zu veräußern, doch weckte nur allein das Grundstück Interesse. So beantragte die TLG im Dezember 1997 den Abriss, der von den Denkmalschützern jedoch abgelehnt wurde. So kaufte ein Brandenburger die Immobilie als Bauland und veräußerte die Ziehharmonika-Kaufhalle jeweils für einen symbolischen Euro gleich weiter an zwei Brandenburger Interessenten, zu je zwei Hälften.
Die Innenausstattung und Isolierung der REH wurde bereits 2008 ausgebaut, dann schließlich im Juli 2009 in zwei Teile demontiert und anschließend eingelagert. Der erste Traum der Nachnutzung war, die REH als Strandbar samt Café zu nutzen. Weitere Träume gab es genügend. Das Industriemuseum als Standplatz, das inzwischen geschlossene Ostalgie-Museum in der Steinstraße 52, oder ein Filmmuseum waren drei davon.
In der Denkmalliste des Landes Brandenburg - Stadt Brandenburg an der Havel (2023) ist die REH unter der Denkmalobjektnummer 09145747 gelistet. Ein Teil der REH wurde inzwischen verkauft. Nun wartet das zweite Teil auf die Erlösung aus dem „Dornröschenschlaf“. Nur zu hoffen, dass es nicht 100 Jahre dauert.
Heute steht auf der Fläche der REH ein geräumiges Einfamilienhaus.